Stollen
Nagelstollen, Schraubstollen und das "Wunder von Bern"
Trägt heute noch jemand pfundschwere genagelte Fußballschuhe? Wohl kaum. Aktuelle Fußballschuhe wiegen um die 200 Gramm, sehen aus wie am Spielerfuß angegossen und alle verwendeten Materialien sind verklebt oder verschweißt. Das Erscheinungsbild alter Fußballschuhe dagegen ähnelt heutigen Sicherheitsschuhen oder Bergstiefeln.
Der Besitz von einem Paar Lederschuhen war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fast mit Reichtum gleichzusetzen, liefen doch gerade auf dem Land mit Ausnahme des Sonntags viele Menschen noch in Holz- und Strohschuhen oder barfuß herum. Hatte man schon mal Lederschuhe, wurden diese sowohl für die Arbeit als auch in der wenigen Freizeit verwendet und, sofern Schäden auftraten, auch immer wieder repariert. Dies ist im Zeitalter von Billigschuhen und hektischen Modetrends heute kaum mehr vorstellbar, aber eine Erklärung, warum der Stiefel der Figur 1 oder 2 aussieht wie der viel getragene Arbeitsschuh eines Bergmanns, denn das ist er ursprünglich auch.
Für die Verwendung im Fußballspiel weist der Schuh der Figur 2 als hauptsächliche Rutschbremse fast quadratische Ledernoppen auf, die an die Unterseite der Sohle genagelt wurden.
In einem weiteren Beispiel der Figur 3 sind im Ballenbereich dagegen zwei Lederstege und an der Ferse drei runde Lederstollen erkennbar. Aber auch hufeisenförmige Aufsätze (vgl. Figur 4 aus dem Jahre 1949), mechanisch gekoppelte Rundstollen oder unterschiedlich gestaltete Balken fanden früh Verwendung, denn ihre Größe und Form haben einen entscheidenden Einfluss auf die Standfestigkeit des Spielers, seine "Bodenhaftung" und darauf, ob sich beim Spielen Teile des Spielfeldes dazwischen verhängen können. Wie hartnäckig Schmutz zwischen Stollen hängen bleiben kann, sieht man in der Figur 5, ein Effekt, der abhängig von der geometrischen Anordnung der Stollen, deren Material und deren Abnutzung stärker oder schwächer ausgeprägt ist. Ursprünglich sahen die Stollen ähnlich aus wie in Figur 6.
Oft wurden Stollen auch erweitert zu Stollenleisten, wie etwa von der heute für ihre Staubsauger bekannten Firma Vorwerk & Sohn aus Wuppertal-Barmen, die sich eine spezielle Form von 1938 ab patentieren ließ (DE 689 237 A, Figur 7 + 8).
Alle genagelten Stollen haben aber einen entscheidenden Nachteil: Sie können ausbrechen, die Sohle beschädigen und so im Extremfall den ganzen Schuh ruinieren. Ersatzstollen mussten daher oft etwas versetzt auf die Sohle genagelt werden, da sie sonst nicht mehr fest genug hielten. Bei historischen gut eingespielten Schuhen sieht man daher oft noch eine Reihe von Nagelwunden in der Sohle und den letzten Stollensatz an Orten, wo man den Schmerz des Trägers förmlich sehen kann (vgl. Figur 2). Genagelte Stollen wurden daher in der Praxis so wenig wie möglich gewechselt, waren aber natürlich nicht immer optimal an die Witterung und die daraus resultierenden Platzverhältnisse angepasst. Daher wurden auch früh Ideen entwickelt, wie Stollen je nach Bedarf gewechselt werden können.
Der 3:2-Sieg der deutschen Nationalmannschaft im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 gegen die scheinbar unbezwingbaren, zuvor jedenfalls über vier Jahre ungeschlagenen Ungarn ist hierzulande Legende. Er machte den damaligen Zeugwart der Fußball-Nationalmannschaft, Adolf Dassler, berühmt, weil es ihm gelang, der kompletten Elf beim "Fritz-Walter-Wetter" des Endspiels der WM 1954 in der Halbzeitpause unschlagbar schnell die passenden Stollen für den im Dauerregen immer tiefer und rutschiger werdenden Platz unter die Schlappen zu schrauben (vgl. Figuren 9 und 10), während die Ungarn mit genagelten, kurzen und weichen Korknoppen auf der Sohle spielen mussten. Kein Wunder also, dass die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 im kollektiven Gedächtnis als die Geburtsstunde des Schraubstollenschuhs verankert ist.
Möglicherweise trägt dieser Legendenstatus entscheidend dazu bei, dass regelmäßig vor jedem großen Fußballereignis Enthüllungsberichte erscheinen, dass Adolf Dassler gar nicht der wahre Erfinder des Schraubstollens ist. Das weiß jeder Experte aber eigentlich sowieso.
Tatsächlich war die Entwicklungsgeschichte von Fußballschuhen mit Schraubstollen im Jahr 1954 bereits mindestens 30 Jahre alt (in anderen Sportarten wie beispielsweise Baseball finden sich sogar noch ältere Beispiele), die Varianten von Stollen schon damals vielfältig. Wie im Kapitel "Der Fußballschuh", Abschnitt 3.2. angerissen, haben sich beispielsweise Ludwig Wackler aus Zweibrücken-Ernstweiler (DE 443 311 A, 1925) und Venustus Eigler aus Oberstdorf im Allgäu (DE 530 454 B, 1930) Lösungen patentieren lassen, bei denen auf der Sohle eines Fußballschuhs nachträglich Lederstreifen oder einzelne Plättchen mit jeweils eingearbeiteten Gewindehülsen befestigt werden, in die Stollen mit einem Gewinde eingeschraubt werden können.
Besagter Ludwig Wackler geht etwa 1925 bereits von einem Stand der Technik aus, der "Schraubhülsen" voraussetzt, die bei der Herstellung der Schuhe "zwischen Lauf- und Brandsohle eingelegt werden". Das heißt konkret, dass es zur damaligen Zeit einen komplett für Wechselstollen gearbeiteten Fußballschuh gegeben haben muß, der sich aber mit Patentdokumenten nicht eindeutig nachweisen lässt. Doch nicht nur in Deutschland war man auf diesem Gebiet aktiv. Bereits im Oktober 1924 ließ der Franzose Louis Deschamps eine Aluminiumplatte mit eingefrästen Gewinden patentieren (FR 29 546 E), die den Ballen oder den Fersenbereich eines Fußballschuhs bedeckt. Noch früher, nämlich im Juli 1922, schlug George Bell vor, dass einzelne Gewindeträger zwischen dem Fußbett des Schuhs und einer weiter darunter folgenden Schicht - aber vor der eigentlichen Laufsohle - einzuarbeiten wären (US 1 515 330 A). Sogar noch älter ist der Vorschlag, Stifte, die auf der einen Seite ein Gewinde aufweisen und auf der anderen drei Dornen, durch Hämmern in die Sohle eines Fußballschuhs einzutreiben (GB 186 643 A, 1921). Die Dornen spreizen sich beim Eintreiben in die Sohlenschichten so auf, dass sie letztlich ausreichend Halt bieten, um auf den Gewindeteil Stollen mit Innengewinde aufzuschrauben (siehe Figur 11).
Die genannten Beispiele betreffen mehrheitlich allerdings noch recht robustes Schuhwerk. Eine viel zitierte Entwicklung an leichten, flachen Schuhen stellte Alexander Salot aus Bremen-Blumenthal im Jahr 1949 vor. Er erfand eine Schraubhülse, die unter der Laufsohle im Rahmen eines zweiendigen, propellerartigen Bauteils befestigt wird (Figur 12).
Herr Salot rüstete zu seiner Zeit schon eine Oberliga-Mannschaft mit seinen Stollenschuhen aus und renommierte Vereine wie der Hamburger SV, Rot-Weiß-Essen oder FC Schalke 04 ließen sich Probeexemplare kommen, wie der "Spiegel" 1950 in seinem Heft 9 auf der Seite 28 zu berichten wusste.
Was also, wenn Rahn damals nicht geschossen hätte? Es ist müßig, die Frage zu beantworten, ob Adolf Dassler dann genauso berühmt geworden wäre. Möglicherweise nicht, denn sicher hatte er auch ein wenig das Glück zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz gewesen zu sein.
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der von ihm entwickelte Schuh eine außergewöhnliche Stabilität hatte. Wesentlicher technischer Hintergrund seiner Erfindung ist dabei, dass er eine "möglichst große Auflage" für die Schraubhülse unter der für diese durchbohrten Laufsohle des Schuhs einplante. Dies setzte er - vereinfacht ausgedrückt - mit einer am Rand abgeflachten Beilagscheibe um, die im Zentrum eine erhöhte Gewindebuchse aufweist - welche das Loch in der Sohle genau ausfüllt. Die Beilagscheibenform garantiert durch ihre Lage zwischen der Laufsohle und den darüber anschließenden Sohlenschichten eine besondere Stabilität gegen das Herausbrechen und verankert Schraubhülse samt Stollen fest im Schuh (vgl. Figur 9, DE 16 95 594 U). Dies ist ein entscheidender Vorteil gegenüber den Ideen seiner Vorgänger, deren Schuhe durchweg wesentlich schadensanfälliger waren.
Zur Legendenbildung eignet sich eine kleine Beilagscheibe möglicherweise nicht, die Erfolgsgeschichte des Schraubstollenschuhs hat sie aber entscheidend geprägt.
Zum Abschluss noch ein Überblick über eine Vielfalt von Stollen aus den Jahren 1954 bis 1970, wie sie je nach Witterungslage und Bodenbeschaffenheit von den Fußballern in ihre Schuhe eingeschraubt werden konnten (Figur 13).