Funkfahne
Chronik einer schwierigen Kommunikation: wie Schiedsrichter zu Erfindern wurden
In einem Büro für Kabelnachrichten in Santiago de Chile beginnt im Mai 1962 eine Ereigniskette, an deren Ende acht Jahre später einige Tausend Kilometer nördlich die erste gelbe Karte der Fußball-Geschichte gezückt wird.
Der Journalist Corrado Pizzinelli, von der italienischen Zeitschrift Naziones anläßlich der 7. Fußball-Weltmeisterschaft zur Berichterstattung nach Chile entsendet, hat - möglicherweise dem verzweifelten Warten auf den erst zehn Tage später erfolgenden ersten Pfiff des Turniers geschuldet, oder wie die Legende sagt auch einfach dem Unmut über einen dreisten Hotelbesitzer - das Gefühl "dazu verurteilt zu sein, in dieser traurigen und fantastischen Welt zu leben, wo sich die Handlung von 'Die Ufer der Syrten' abspielt, dieses unvergessene Buch von Julien Gracq". Er berichtet darüber in einem ersten Artikel für die ferne Heimat.
Seine unter dem Titel "Die unendliche Traurigkeit der chilenischen Hauptstadt - Santiago, das Ende der Welt" zusammengetragenen detaillierten und unglückseligen Ausführungen über das Gastgeberland, die auch vor einem Vergleich der Würde und Anmut chilenischer Frauen mit derjenigen der Turinerinnen nicht halt machen, werden allerdings nicht nur in Italien gelesen, sondern vom Bediensteten der Kabelagentur auch an einen Radiosender in Santiago übermittelt.
Das Vorrundenspiel der Gruppe B am 2. Juni 1962 um 15:00 Uhr zwischen Chile und Italien geht als das wohl brutalste in die WM-Geschichte ein.
Nachdem die von den italienischen Spielern vor dem Spiel zur Besänftigung ins Publikum geworfenen Nelkensträuße von diesem postwendend zurückgeworfen wurden, entlädt sich die Stimmung auf dem Platz, wozu auch der Umstand beiträgt, dass die italienische Mannschaft nach einem 0:0 im ersten Gruppenspiel gegen Deutschland schon früh im Turnier gehörig unter Erfolgsdruck steht. Dem ersten Feldverweis des Spiels gegen den italienischen Mittelfeldspieler Ferrini in der 7. Spielminute folgt eine zehnminütige Spielunterbrechung, bis der sich standhaft weigernde Übeltäter von der Polizei vom Feld geführt wird. Im weiteren Verlauf dieser als "Schlacht von Santiago" bekannten Partie kann der bedauernswerte englische Schiedsrichter Ken Aston nur einen Bruchteil der Vergehen ahnden, deren traurige Höhepunkte zwei von ihm übersehene Faustschläge des chilenischen Linksaußen Sánchez darstellen, mit denen dieser die Italiener Maschio und David - in zwei jeweiligen Revancheakten - niederstreckt. Selbst die alte Weisheit, nach der ein Spiel 90 Minuten habe, wird am Ende der nur teilweise fußballerischen Auseinandersetzung noch wiederlegt, denn Aston pfeift die Partie inmitten der auf das 2:0 der Chilenen in der 88. Minute folgenden Handgreiflichkeiten einfach ab und wird danach - aufgrund einer Achillessehnenverletzung - kein Fußballspiel mehr leiten.
Der Brite steigt aber schon bald zum FIFA-Berater für Schiedsrichterfragen auf und wird vier Jahre später in seiner neuen Funktion als Chef der WM-Schiedsrichter Zeuge wie sein deutscher Kollege Rudolf Kreitlein im Wembley-Stadion ein ähnliches Drama durchlebt. In dem ebenfalls mit großer Härte geführten Viertelfinale der WM 1966 zwischen England und Argentinien verwarnt Kreitlein bereits in der ersten halben Stunde auf jeder Seite drei Spieler, und schon bald hat er die gesamte argentinische Mannschaft in seinem Notizbuch notiert. Als der argentinische Kapitän Rattín nach einer Freistoßentscheidung in der 35. Minute des Spiels heftig gestikulierend auf Kreitlein einredet, verweist dieser ihn vom Feld. Rattín jedoch verbleibt - den Platzverweis angeblich nicht verstehend und einen Dolmetscher für seine Beschwerden gegen die Entscheidungen des Schiedsrichters verlangend - auf dem Platz.
Nach acht Minuten kann der herbeigeeilte und in einer solchen Situation erfahrene Ken Aston Rattín zur Aufgabe seines Protests überreden und in seiner späteren Analyse der Geschehnisse erkennt er, dass eine wesentliche Ursache des Skandals darin lag, dass kaum einem der von Kreitlein im Laufe der Begegnung notierten Spieler bewusst war, mit einer Verwarnung belastet zu sein. Die Lösung dieses Kommunikationsproblems offenbarte sich ihm auf dem Heimweg vom Stadion in Form einer Verkehrsampel in der Kensington High Street.
Die gelben und roten Karten waren geboren und erlebten bei der nächsten Weltmeisterschaft in Mexico 1970 ihre Premiere.
Aber auch Rudolf Kreitlein sollte sich wenig später um die Kommunikation auf dem Fußballplatz verdient machen. Nicht nur aus eigener Erfahrung wusste Kreitlein darum, dass ein verspäteter oder gänzlich unterbleibender Blickkontakt zwischen Schieds- und Linienrichter strittige Spielsituationen oder gar spielentscheidende Fehler verursachen kann. Er erfand den sogenannten "Funk-Commander" (vgl. Figur 1), der eine zuverlässige Verständigung zwischen Schiedsrichtern und Linienrichtern ermöglicht, was wohl auch Ken Aston bei dessen letztem Einsatz als aktiver WM-Schiedsrichter sehr geholfen hätte.
Im Jahr 1981 stellte er das Gerät auf der ISPO in München vor, meldete es gleichzeitig zum Patent an und präsentierte es in der Fernsehsendung "Das aktuelle Sport-Studio" der sportinteressierten Öffentlichkeit. Das von ihm erdachte Kommunikationssystem (DE 31 20 584 A1) besteht aus einer in der Fahne des Linienrichters angebrachten Sendeeinrichtung und einem Empfangsgerät, das am Körper des Schiedsrichters befestigt wird. Ähnliche Instrumente waren zwar schon zuvor in der Literatur beschrieben worden (DE 1 993 964 U), aber Kreitlein's Funk-Commander bewährte sich bei mehreren Testspielen in der Praxis und schaffte es auch zum Patent.
Die Hoffnungen, eine ähnlich schnelle Einführung seiner Erfindung im Weltfussball zu erleben wie zuvor Ken Aston mit seinen Verwarnungskarten zerschlug sich jedoch schon bald. Der Fußball-Weltverband lehnte die Neuerung mit der Begründung ab, dass jede Änderung der bestehenden Normen und Regeln weltweit angewandt werden müsse und die Kosten des Geräts für kleine Länder und unterklassige Mannschaften zu hoch seien.
14 Jahre später wurde die Einführung eines Funksystems für Schieds- und Linienrichter von der FIFA aber doch noch befürwortet (den Zuschlag erhielt das neuere Modell einer Schweizer Firma). Da die Anschaffungskosten des Funksystems auch heutzutage nicht unerheblich sind, ist dessen Nutzung nur in höheren Spielklassen vorgeschrieben, darf aber in den unteren Klassen aber verwendet werden. Nach Tests in der UEFA Champions League und einigen nationalen Ligen standen die Schiedsrichter dann bei der WM 2006 erstmals auch in allen Spielen über Funk (Headset) mit ihren Assistenten in Verbindung.
Kreitlein's Funk-Commander selbst schaffte es somit zwar nie in die WM-Stadien, seinem Erfinder bleibt aber die Ehre, Pionierarbeit für eine verbesserte Kommunikation auf dem Fußball-Platz geleistet zu haben.